Es war Herbst geworden in der Prärie.
Die Tipis des kleinen indigenen Volkes waren an diesem dunklen Abend leer – bis auf eines.
Little Fox ging den Weg zum großen Zelt hinauf. Beim Betreten fiel sein Blick zuerst auf das Feuer, das mittig hinter der niedrigen Steinmauer brannte. Langsam fanden die Schatten der Gesichter durch den Rauch den Weg in seine Augenwinkel. Er ließ seinen Blick im Kreis wandern. Alle waren da. Der Stammesrat saß nah am Feuer, und hinter ihnen der Rest des Clans. Der Häuptling trug eine Holzmaske, verbunden mit einem riesigen, bunten Kopfschmuck.
„Irgendwann trage ich auch diese Maske“, dachte Little Fox und setzte sich so nah er konnte hinter ein Mitglied des Stammesrates.
Häuptling Standing Rock hob die Augenbraue, als Little Fox das Ritual störte, machte aber unbeirrt weiter. Langsamen Schrittes ging er im Kreis, das Buch der Vorfahren hochhaltend, und las wortgewaltig daraus vor.
„Die Zeit ist gekommen, es ist der Monat der fallenden Blätter. Wie ihr alle wisst, bedeutet das, dass die Schafe geschlachtet werden müssen, damit wir Fleisch und Felle für den Winter haben.“
Iron Buffalo, der Schamane des Stammes, schüttelte wissend mit dem Säckchen und unterbrach damit die Stille.
„Wie jedes Jahr werden wir auch heute wieder auslosen, wem diese hohe Verantwortung zuteilwerden wird“, sprach der Häuptling weiter.
Jeder wusste, was sich in dem Säckchen befand: Knochen, Steine, Muscheln und kleine Holzstäbchen. Ein Stück des Inhalts wurde jedes Jahr aufs Neue rot eingefärbt, und wer dieses Teil zog, musste die Schafe töten.
So begannen sie reihum zu ziehen. Niemand zeigte, was er hatte – das war Brauch. Erst wenn alle gezogen hatten, würden sie gleichzeitig die Hände öffnen.
Nach einem lauten Schrei von Häuptling Standing Rock öffneten alle gleichzeitig die Hände.
Little Fox, der nicht daran glaubte, dass er den roten Teil ziehen würde, streckte seine Hand siegessicher nach vorne. Was er sah, gefiel ihm gar nicht. Ein Raunen, gefolgt von leisem Getuschel, ging durch das Zelt. Er hatte einen roten Knochen in der Hand – und so war es besiegelt.
Es gab keinen Ausweg für ihn. Er wollte das nicht tun. Er war doch erst dreizehn Jahre alt und hatte keine Erfahrung. Wieso musste es ausgerechnet ihn treffen?
Und so machte er sich widerstrebend auf den Weg ans Ende der Siedlung zur Scheune, wo die Schafe gehalten wurden. Um es hinauszuzögern, ging er langsam und trödelte herum.
Bei der Scheune angekommen, guckte er durch ein kleines Loch in der Wand. Was er sah, war … nichts. Es war stockdunkel. Das kleine Feuer, das eigentlich immer brannte und Licht brachte, war erloschen.
Darüber freute er sich sehr, musste er doch nochmals zurück zum großen Zelt und eine Fackel holen. Vielleicht fiel ihm unterwegs noch eine Ausrede ein.
Im Zelt starrten ihn alle so an, dass er eilig zurückging. Er erklärte, er brauche eine Fackel. Eine Ausrede war ihm nicht eingefallen, und so machte er sich wieder auf den Weg.
Sein Herz pochte bis zum Hals, die Angst wuchs. Er blieb stehen, sprach sich Mut zu, atmete tief ein, öffnete mit zitternder Hand das Tor – und sah … wieder nichts.
Der Stall war leer, kein einziges Schaf war da.
Er ging durch den Stall, leuchtete in jede Ecke. Kein Schaf weit und breit.
Little Fox fragte sich, wo sie wohl alle hingekommen waren.
Dann, in der letzten Ecke, wurde klar, warum: Zwei morsche Planken waren abgebrochen, und es klaffte ein Loch – gerade groß genug, dass die Schafe durchschlüpfen konnten. Sie waren längst über alle Berge.
Tja, was soll ich euch sagen: Es wurde ein seeeehr langer und seeeeehr kalter Winter für das kleine Volk.